Manche Kirchen haben einen Kirchenschatz: Kostbare Gegenstände aus Gold und Silber schmücken die Kirche oder sind in einer eigenen Schatzkammer zu besichtigen. Auch unsere Michelbacher Martinskirche beherbergt Kostbarkeiten, nicht aus Gold und Silber, aber wertvolle Schätze sind es dennoch. So haben wir in unserer Martinskirche besondere alte Fresken und Darstellungen auf Bildern, eine wunderschön geschnitzte Kanzel, die renovierte Orgel auf der Empore, und wir haben:
Zwei Kreuze. Ja, zwei!
Das Passionskreuz an der linken Wand beim Taufstein und das helle Auferstehungskreuz in der Mitte, auf dem Altar. Vor über 20 Jahren wurde das Auferstehungskreuz oder auch Osterkreuz von der Töpfermeisterin und Künstlerin Renate Heckmann aus Schwäbisch in Zusammenarbeit mit dem damaligen Kirchengemeinderat geschaffen. Nun ist Frau Heckmann Anfang Oktober gestorben. Im Haller Tagblatt erschien kurz darauf ein Artikel über ihr Leben und Schaffen, und es wurde unser Michelbacher Altar-Kreuz als eine einmalige Besonderheit darin erwähnt. Einmalig, weil es das größte Werk der Künstlerin war, das am Stück gefertigt und gebrannt wurde – und dabei, Gott sei Dank, keinerlei Risse oder Verformungen erlitten hat. Es blieb heil. Und einmalig ist es auch, weil es sich an seinem Platz auf dem Altar, mit der Ausrichtung nach Osten und mit dem Durchbruch ins Licht in einen grundlegenden theologischen Kontext fügt:
Das Passionskreuz zeigt uns Jesus, der in den Stunden seines furchtbaren Sterbens das allergrößte Maß an Leid durchlitten hat. Gleichzeitig mit dem allerhöchsten Maß an Liebe für uns Menschen ist sein Tod zur Erlösung für uns Christen geworden. Das ist ein Geheimnis. Doch mit Jesu Tod ist nicht alles zu Ende; es geht weiter, Jesus hat die dunkle Nacht des Todes überwunden. Am Ende steht der Jubel und das helle, das Licht. Dafür steht unser helles Altar- und Osterkreuz.
Die folgende Erzählung enthält beide Aspekte. Tod und Leben, Leid und österliche Hoffnung. Der Text stammt von Don Tonino Bello, einem italienischen Priester, der uns folgendes erzählt:
Provisorische Anbringung – Überlegungen zum Kruzifix
(von Don Tonino Bello)
Bei einem Vertretungsdienst im Dom von Molfetta bemerkte ich in der Sakristei an der Wand ein großes Kruzifix, und daran war ein kleiner Zettel mit folgender Aufschrift befestigt: „Provisorische Anbringung“.
Im ersten Moment hielt ich den Hinweis für den Titel des Kunstwerks.
„Provisorische Anbringung“. Plötzlich war ich hellwach.
Diese Bezeichnung erschien mir – als ob der Himmel es mir in diesem Moment eingegeben hätte – als ganz genau passend!
Wegen Renovierungs-Arbeiten hatte man das Kreuz in die Sakristei bringen lassen, und da hing es nun an der kahlen Wand, an diesem abgelegenen und düsteren Ort, mit genau diesem Zettel dran: „Provisorische Anbringung“.
Es gibt wohl keinen passenderen Ausdruck dafür, das Kreuzesgeschehen zu beschreiben. Für das, was mit Jesus am Kreuz geschehen ist, aber auch für dein Kreuz, für mein Kreuz, für jedes Kreuz, das Menschen auf der ganzen Welt zu tragen haben, im Leben, im Sterben…
Du Mensch, der du wie gekreuzigt in einem Rollstuhl sitzen musst,
und Du Mensch, wenn quälende Einsamkeit dich lähmt: Hab Mut!
Du Mensch, der Du den bitteren Kelch der Verlassenheit trinkst… vertraue!
Und Du Mensch, wenn Du zusehen und aushalten musst, wie Dein Körper mehr und mehr von einer gnadenlosen Krankheit zerstört wird… verzage nicht, bleibe in der Hoffnung!
Wisch die Tränen ab, du Bruder, der du von einem Menschen, der vorgab dein Freund zu sein, verleumdet und verlassen wurdest.
Und Du Mensch, der Du durch die vielen Wunden, die Dir der Krieg geschlagen hat, müde und kraftlos geworden bist: Gib nicht auf. Halt durch!
Dein Kreuz, auch wenn es das ganze Leben hindurch andauern sollte,
es ist immer nur in „provisorischer Anbringung“.
Der Ort, an dem es errichtet wurde, Golgatha, das ist kein dauerhafter Aufenthaltsort. Es ist ein provisorischer Ort.
Das Evangelium ermutigt uns immer wieder, das Kreuz als vorläufig,
als die vorletzte Wahrheit zu betrachten.
Die ganze Tragödie der Beziehung zwischen Menschen und Gott, durchlitten und geheilt durch den Tod Jesu am Kreuz; wie in einem Brennpunkt kommt sie in diesem Satz zum Ausdruck:
„Von Mittag an bis zum Nachmittag um 15.00 Uhr wurde es Nacht auf der Erde.“
Das ist vielleicht der dunkelste Satz in der ganzen Bibel. Aber es ist auch zugleich der hellste, der hoffnungsvollste. Die Begrenzungsmarkierungen der Zeit auf drei Stunden am Kreuz: Das sind zwei Pflöcke, die alles Leid und allen Schmerz der Welt, alles Dunkel, das uns überwältigen will, in Schranken weisen.
In die Schranken von Mittag und drei Uhr am Nachmittag.
Das sind die Randbefestigungen für den Fluss der Tränen.
Das sind die Absperrungen, die alles Seufzen und Wehklagen der Welt in einem umschreibbaren Raum halten.
Das sind die Barrieren, die die Todesqualen der Menschheit begrenzen.
Von Mittag an bis um drei Uhr am Nachmittag.
Über diese drei Stunden hinaus gibt es keinen Aufenthalt am Kreuz.
Spätestens nach diesen drei Stunden erfolgt die Abnahme von allen Kreuzen dieser Welt. Ein längerer Aufenthalt ist sogar für den Sohn Gottes nicht vorgesehen.
Es ist eine „Provisorische Anbringung“.
Habt also Mut, Brüder, Schwestern, die ihr leidet.
Es ist nicht mehr lang bis zum Nachmittag der Kreuzesabnahme.
Bald muss dieser dunkle Ort dem Licht weichen.
Dann wird es hell. Dann erhält die Erde ihre schönsten Farben zurück,
denn durch die fliehenden dunklen Wolken
bricht dann die Sonne des Ostermorgens.
Das ist unsere Hoffnung als Christen. Die qualvolle Passion Jesu am Kreuz
ist nicht das Ende, es ist nicht die letzte, sondern die vorletzte Wahrheit.
Nach dem Tod Jesu am Kreuz kommt ein Doppelpunkt:
Es geht weiter, es kommt der Ostermorgen, der Durchbruch ins Licht.
Und erst dahinter steht dann … das Ausrufezeichen!
Don Tonino Bello (aus: Alla finestra la Speranza, Übersetzung Christine Pawel-Harr)