Lieber Thomas,
als „ungläubig“ bist du in die Geschichte und Tradition des Christentums eingegangen. „Nicht sehen und doch glauben!“ Über Generationen wurden diese Worte Jesu als Mahnung an dich gelesen. So, als sei der Auferstandene fast etwas verschnupft gewesen über deinen Wunsch, ihn zu sehen und seine Wundmale zu berühren. Du bist zu einem geflügelten Wort geworden: Der „ungläubige Thomas“. Ich finde, das hast du nicht verdient. Was war denn bitte verwerflich daran, dass du – wie auch Maria Magdalena am Ostermorgen und die anderen Jünger am Abend des Auferstehungstages – den Auferstandenen mit eigenen Augen sehen wolltest? Du wolltest dir selbst ein Bild machen, den Dingen auf den Grund gehen. Du wolltest nicht blind den Aussagen der anderen vertrauen. Es sollte deine Auferstehungsfreude sein, die du in dir spürst, nicht die der anderen Augenzeugen. Ach Thomas, ich verstehe dich nur zu gut. Du bist ein kritischer, gründlicher Mensch. Nicht umsonst bist du wohl später oft als der Schutzherr der Präzisionsberufe dargestellt worden. Mit Winkelmaß. Der Heilige der Bauleute und der Architekten.
Keiner muss sich seiner Fragen zum Glauben schämen. Oder diese Fragen verdrängen, wegschieben. Wer noch fragt, wer zweifelt und um Antworten ringt, der oder die ist doch an einer Sache oder einer Person wirklich interessiert. Ich finde, das zeigt deine Haltung nach dem Ostertag ganz deutlich. Ja, es kann heilsam sein, seine Zweifel offen auszusprechen. Und Vertrauen zögernd, tastend zu gewinnen. Danke für deine Ehrlichkeit. Dein Ringen. Deine Sehnsucht, glauben zu wollen und es doch – zumindest vorerst – nicht zu können.
Wahrscheinlich war die Woche danach eine der schwersten Wochen deines Lebens. Und dann erscheint Jesus ein zweites Mal. Genau eine Woche nach dem Auferstehungstag. Und diesmal bist Du mitten unter den Jüngern.
Kein Wort des Vorwurfs kommt über Jesu Lippen. Kein: „Wo bist du eigentlich vorige Woche gewesen?“ Kein: „Warum hast du denn den anderen nicht geglaubt? Die haben es dir doch erzählt.“ Jesus sagt: “Friede sei mit euch!“ Er sagt diese Worte zu allen im Raum. Und dann: Ohne dass Du einen Ton sagst, geht Jesus auf Dich zu und spricht Dich an: „Thomas, du wolltest mich doch berühren. Bitte! Hier sind meine Hände, hier ist meine Seite. Du kannst deinen Finger in meine Wunde legen. Ich bin es wirklich.“ Der Auferstandene holt Dich da ab, wo Du stehst. Er geht auf Deine Bedürfnisse ein.
Der italienische Maler des Frühbarocks Caravaggio hat diese Szene gemalt. Du tust es, Du legst deine Finger in die Wundmale Jesu. Caravaggio geht in seinem Gemälde so weit, dass Jesus sogar selbst deine Hand führt. Eine grobschlächtige Hand, die hartes Arbeiten und Zupacken gewohnt ist. Ein langer Zeigefinger mit schmutzigen Fingernägeln. Für heutige Betrachterinnen und Betrachter fast abstoßend realistisch dargestellt, wie der Barockmaler „draufhält“. Aber es geht gerade um dieses Handfeste, Spürbare. Du darfst den Finger in die Wunde legen. Diese Geste ist als Redewendung in unsere Sprache eingegangen. Aber hier geschieht das nicht, um zu bohren oder den Schmerz zu vertiefen. Nein, hier geht es um ein Be-Greifen im doppelten Sinn.
In diesem Moment begreifst Du: Gott verbindet sich mit uns. Mit unserem Schmerz. Er leidet bis in die letzte Faser mit. Der Auferstandene gaukelt uns keine heile Welt vor. Nein, hier ist das Leben, wie es ist: Verletzlich, ungerecht und oft einfach nur zum Heulen. Du berührst diese höchst schmerzhaften, bleibend sichtbaren Wundmale Jesu. Und Du begreifst: Der auferstandene Jesus trägt die Wunden der Welt ins neue Leben. Er lebt trotz und mit ihnen! Diese Wunden sind aufgehoben bei ihm. Das Leben, die Liebe Gottes siegt. Das ist das überwältigende Wunder. Das ist der Trost. Das Geheimnis. Der Friede, der unseren Verstand übersteigt, und uns doch immer neu umhüllt. Und neu Vertrauen lehrt. Ja: „Der HERR ist wahrhaftig auferstanden.“
Dorothee Leister
Quelle: Predigtvorlage für Prädikant*innen, verfasst von Florentine Wolter, Obergröningen