In dem Glockenturm unserer Michelbacher Kirche hängen drei Glocken.
Auf der größten, 578 Kilogramm schwer, steht der Spruch “Verleih uns Frieden gnädiglich, Herr Gott, zu unseren Zeiten“.
Michelbach musste immer wieder in Kriegszeiten Glocken abgeben, es wurden Kanonen daraus gegossen. In den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts hat die Michelbacher Kirchengemeinde Geld gesammelt, um wieder eine neue große Glocke anzuschaffen.
Ich denke, als die Michelbacher sich dafür entschieden haben, diese Glocke mit dem Liedvers „Verleih uns Frieden gnädiglich“ zu verzieren, haben sie an ihre Toten aus den Weltkriegen gedacht und ausdrücken wollen, dass sie nie wieder Krieg erleben wollen.
Die große Glocke schlägt die vollen Stunden und ruft um 6 Uhr, 12 Uhr und 18 Uhr zum Gebet. So ist jeder Schlag unserer Glocke jede Stunde am Tag ein kleines Friedensgebet.
Seit es Menschen gibt, seit Kain Abel erschlug, gibt es Streit und Konflikte zwischen ihnen – und genauso alt ist die Sehnsucht der Menschen nach Frieden. Und ist es nicht anachronistisch, dass wir ins All fliegen, das menschliche Erbgut entschlüsseln, Herzen verpflanzen und Kinder im Reagenzglas zeugen können – nur Frieden zu halten, das haben wir in unserer modernen und doch so aufgeklärten Welt nicht gelernt.
Und so gehört die Bitte „Verleih und Frieden gnädiglich, Herr Gott, zu unseren Zeiten“ auch heute noch zu den Kern-Liedern unseres Gottesdienstes, die wir oft und regelmäßig singen. Doch woher kommt eigentlich dieses Lied?
Der Ursprung ist eine mittelalterliche Antiphon „Da pacem Domine in diebus nostris“ aus dem 9. Jahrhundert. Zur Erklärung: Eine Antiphon ist ein Wechselgesang, ein Leitvers zur Umrahmung eines gesungenen oder gesprochenen Psalms.
Da pacem, Domine in diebus nostris, quia non est alius qui pugnet pro nobis, nisi tu Deus noster. Das heißt wörtlich Gib Frieden, Herr, in unseren Tagen, denn es ist kein anderer, der streiten könnte für uns, wenn nicht du, unser Gott.
Den Frieden können wir also nicht allein schaffen oder herbeizwingen, ihn nicht erstreiten, sondern er muss auch erbeten sein von Gott, damit er ihn uns gibt, ihn uns erkämpfen hilft. Dies ist der Inhalt dieses alten Gebets.
Der lateinische Gesang wurde in Zeiten besonderer Bedrohung gesungen: Papst Johannes XII. z.B. hatte ihn im Jahr 1322 zum Gebet verordnet, als die Türken Europa bedrohten.Der Reformator Martin Luther verfasst im 16. Jahrhundert aus dieser Antiphon ein Kirchenlied. Er hält sich bis auf das Wort gnädiglich ganz an die lateinische Vorlage. Und statt dem etwas fordernden „Gib!“ schreibt Luther Verleih.
Verleihen – leihen – zurücklassen von etwas, das man nicht erworben hat, das einem geliehen worden ist.
Auch Martin Luther schrieb seine Version dieser Friedensbitte 1529 in einer Situation konkreter Gefahr: Es bestand zum einen die Möglichkeit, dass Kaiser Karl V. die Reformation gewaltsam beenden würde: Am zweiten Reichstag zu Speyer im Februar 1529 wurden die eher toleranten Beschlüsse des ersten Reichstages, der drei Jahre vorher stattgefunden hatte, unter Protest der evangelisch gesinnten Fürsten zurückgenommen – von da kommt übrigens die Bezeichnung Protestanten. Zum anderen bedrohten wieder die Türken Europa: sie stießen im Herbst 1529 bis vor Wien vor.
In diebus nostris – zu unsern Zeiten, was sagt uns das Lied heute?
Luthers Friedensbitte lässt sich seit fast 500 Jahren immer an konkrete aktuelle Ereignisse binden.
Zu unseren Zeiten (Anfang März 2024) denke ich an die unzähligen Kriege und gewaltsamen Konfikte, die gerade rund um die Erde toben.
Da ist der wieder aufgeflammte Konflikt zwischen Israel und Palästina und die Unmöglichkeit, eine sinnvolle Zweistaatenlösung zu schaffen. Da ist der Überfall Russlands auf die Ukraine, der seit zwei Jahren unschuldige Opfer fordert und Menschen zwingt, ihre Heimat zu verlassen und in anderen Ländern Schutz zu suchen. Da ist der innerstaatliche Konflikt in Syrien zwischen der syrischen Regierung unter Präsident Baschar al-Assad und verschiedenen Oppositionsgruppen, der bis heute andauert und ebenfalls zu gewaltvollen Auseinandersetzungen geführt hat.
Von Afghanistan bis Venezuela – weltumspannend – sehen wir Unfrieden und Unfreiheit und Verletzung von Menschenrechten.
Und wie die Menschen vor uns sehnen wir uns nach Frieden. Nach diesem „shalom“ der Bibel, der alles und alle umfasst. Der immer mehr meint als die Abwesenheit von Krieg: Frieden mit sich selbst, Frieden mit dem Menschen gleich neben mir. Frieden im Herzen aber auch in der Gesellschaft und unter den Völkern. Ganz unverzichtbar gehört dazu auch der Frieden mit der Natur. Die Kriege der Zukunft werden um Wasser geführt, um Energie, um Land, um Ackerboden. Das Flüchtlingselend wird dort bewältig, wo es entsteht, oder es wird gar nicht bewältigt.Frieden wird verliehen, aber wir müssen ihn auch aktiv suchen und die Voraussetzungen für ihn schaffen. „Selig die Friedfertigen“, sagt Jesus in der Bergpredigt, die Eirenopoioi, also die, die den Frieden anfertigen.
Ganz solide, handwerklich, Schritt für Schritt. Das meint Friedenserziehung, Training für den gewaltfreien Umgang mit Konflikten. Diplomatie, Mediation, die Kunst zu streiten für das Richtige auf die richtige Art. Und Kompromisse auszuhandeln.
Es ist ein mühsamer, langwieriger, anstrengender Prozess, der von allen beteiligten Parteien Zugeständnisse, Kompromisse, Einigungswillen verlangt. Frieden heißt, tätig zu werden, statt zu resignieren. Sich zu beteiligen und einzumischen statt sich enttäuscht abzuwenden von der Politik oder gar populistische oder radikale Parteien zu unterstützen. Für mich ist sicher, dass sowohl Freiheit als auch innen- und außenpolitischen Frieden nur in einer Demokratie gedeihen können. Daher müssen wir alles dafür tun, um die Demokratie zu stärken.
Schritt zum Frieden kann jeder einzelne Mensch machen. Sei es im Alltag unsrer kleinen Welt von Michelbach, sei es in der großen Weltpolitik: Jeder Schritt hin zum Frieden ist ein kleiner Teil der Wiederkunft Christi. Und das macht mir und hoffentlich auch Ihnen allen Mut. Und Freude und Fröhlichkeit, wenn wir das Lied in seiner aktuellsten Version singen: „Halleluja, Kyrie eleison, Herr Gott, erbarme dich“ – Lob und Bitte, Klage und Bekenntnis ganz nah beieinander, wie es beim Frieden nicht anders sein kann. Hebräisch, Griechisch, Deutsch, in vielen Sprachen also, weltumspannend. AMEN
Quellen:
Verleih uns Frieden gnädiglich
Michelbach an der Bilz – Beiträge zu Geschichte und Gegenwart 1980, Hrsg.
Michelbacher Gemeinde