Die Welt von oben sehen – wie die Vögel. Schon mal davon geträumt? Wie wäre es wohl da oben? Das Gesicht in den Wind halten, die Kleider durchpusten lassen, dass es flattert. Man würde nach unten schauen, auf das Haus, den Balkon mit den Blumen, die Obstbäume in Nachbars Garten, und alles wäre ganz anders, als wenn man auf dem Boden herumgeht, kleiner und übersichtlicher.
Der Traum vom Fliegen findet sich auch in der Bibel. Im Psalm 55 steht: »O hätte ich Flügel wie Tauben, dass ich wegflöge und Ruhe fände!«
Einfach wegfliegen von allem, was das Leben schwer macht. Das ist so verlockend! Davon haben die Menschen in biblischen Zeiten geträumt und davon träumen sie heute noch. In Flugzeuge steigen und allem Beschwerlichen einfach davonfliegen konnten sie vor zweitausend Jahren noch nicht. Heute können wir es und gerade nach den Corona-Jahren haben viele auch ein Bedürfnis danach, zumindest für zwei Wochen woanders zu sein.
Und doch – die Erdenschwere haftet an uns. »Bleib mal auf dem Boden«, sagt man, wenn einer es übertreibt mit der Fantasie. Auch wenn wir es uns oft schon gewünscht haben, aus einer schwierigen Situation, aus einem Streit, einer Traurigkeit, einer Krankheit einfach davonfliegen. Es hilft alles nichts, wir sind aus Erde gemacht und das bleiben wir auch.
Aber gibt es nicht trotzdem Dinge, durch die mir Flügel wachsen? Könnte es nicht eine Lebensaufgabe sein und eine immerwährende Gebetsbitte, dass es gelingt, diese Dinge aufzuspüren und auch den andern zu helfen, das zu finden, was ihnen Flügel verleiht? Wäre es nicht sinnvoll, einen Vorrat davon anzulegen, eine eiserne Reserve, auf die ich immer zugreifen kann? Ist das nicht in unsicheren Zeiten überlebens-notwendig?
»Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer, so würde auch dort deine Hand mich führen und deine Rechte mich halten.« Manchmal sind es Worte wie dieser Vers, die alle Erdenschwere abfallen lassen: Das Herz hebt sich wie von selbst in den Himmel. In den Worten steckt eine beflügelnde Kraft. Kennen Sie solche Worte?
Manchmal ist es auch die Musik. Ein Lied – man hört es oder singt es und einem wachsen Flügel dabei. Kennen Sie so ein Lied? Oder ist es der Klang eines Instruments? Ein Cello? Eine Gitarre?
Und dann sind es natürlich Menschen, die einem Flügel verleihen. Manchmal sogar jemand, der mir gar nicht so nahesteht, und ich merke trotzdem sofort: »Du tust mir gut! Wenn du da bist, wachsen mir Flügel, du bringst mich auf neue Gedanken, ich bin für einen Moment mit mir selbst ganz im Reinen!«
»O hätte ich Flügel wie Tauben, dass ich wegflöge und Ruhe fände!« Leichter werden, Flügel bekommen, wegfliegen – kann das wirklich nicht sein?
Doch, ich glaube, es kann. Denn einer gießt eine beflügelnde Kraft in mein Leben, einer, der genau weiß, wie Erdenschwere sich anfühlt. Durch seine Kraft wachsen manchmal jemandem Flügel mitten in diesem verrückten Leben. Manchmal wird einem sogar die Gnade zuteil abzuheben. Dann sieht man die Welt von oben, frei wie ein Vogel im Wind. Von dort oben ist auch zu sehen, was ich hier unten manchmal vergesse: Wie wunderschön diese Welt, wie klein und wie kostbar jeder Mensch ist – und auch die Blumen auf dem Balkon und die Obstbäume in Nachbars Garten.