Herbsttag

Herbsttag

Das Gedicht „Herbsttag“ von Rainer Maria Rilke beginnt mit den Worten:

„Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren lass die Winde los.“

Die Zeit des Sommers, die Zeit der Fülle, der Wärme, der Leichtigkeit, geht zu Ende. Der Herbst naht, wir holen die Ernte ein und das Leben verlangsam sich. Rilke bringt auf poetische Weise zum Ausdruck, was wir alle spüren: Die Jahreszeiten des Lebens ändern sich, und wir können sie nicht aufhalten. „Es ist Zeit“ – so einfach und doch so bedeutsam. Es ist Zeit, sich dem Wandel zu stellen. Ähnliches sagt uns auch der biblische Text aus dem Buch Prediger  (Kohelet 3,1-8):

„Alles hat seine Zeit,
und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde:
Geborenwerden hat seine Zeit,
Sterben hat seine Zeit;
Pflanzen hat seine Zeit,
Ausreißen des Gepflanzten hat seine Zeit.“

(Prediger 3,1-2)

Rilkes Gedicht und der Bibeltext laden uns ein, die verschiedenen Zeiten unseres Lebens nicht nur zu erkennen, sondern sie auch anzunehmen. Wir genießen den Sommer des Lebens, mit seiner Fülle und Energie, aber auch der Herbst hat seine Bedeutung. Es ist eine Zeit der Reife, des Erntens und manchmal auch des Loslassens. Vielleicht liegt gerade darin eine besondere Schönheit.

Rilke schreibt weiter:

„Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;
gib ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin und jage
die letzte Süße in den schweren Wein.“

Bild: Pixabay

Diese „letzte Süße“ erinnert uns daran, dass auch im Herbst unseres Lebens noch viel Frucht verborgen liegt. Gott gibt uns nicht auf. Auch wenn der Sommer vorbei ist, lässt er uns nicht leer zurück. Die letzten Früchte sollen reifen, die letzte Süße des Lebens soll genossen werden. Gott drängt uns zur Vollendung – nicht zur Verzweiflung. Selbst in Zeiten des Abschieds und des Wandels ist er bei uns und schenkt uns Gnade und Fülle.

Rilke schreibt:

„Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben…“

Diese melancholischen Zeilen erinnern uns an die Vergänglichkeit und die Einsamkeit, mit denen uns der Herbst des Lebens oft konfrontiert. Aber wir als Christinnen und Christen dürfen hier Hoffnung schöpfen. Denn wir wissen: In Gottes Zeitrechnung gibt es keine endgültige Einsamkeit, keine endgültige Vergänglichkeit. Jesus Christus hat uns verheißen, dass wir in ihm unser Zuhause finden – auch dann, wenn die äußeren Dinge zerfallen. Wenn wir in schweren Zeiten das Gefühl haben, allein zu sein, gibt uns die Gewissheit Trost: Gott ist da. „Ich bin bei euch alle Tage, bis ans Ende der Welt“ (Matthäus 28,20) – das ist seine Verheißung an uns.

Lassen wir uns also von Rilkes Gedicht und dem Predigertext dazu ermutigen, den Wandel in unserem Leben anzunehmen. Alles hat seine Zeit – und jede Zeit ist von Gott geschenkt. Auch wenn wir die Veränderung nicht immer verstehen oder willkommen heißen, dürfen wir darauf vertrauen, dass Gott uns in jeder Phase unseres Lebens begleitet.